Wie eine Frau aus dem Status „geduldet“ mit Selbstbildung, Nachbarschaft und dem Rhythmus Mallorcas ein Buch schrieb — und welche Lücken die Insel im Alltag der Integration noch hat.
Ankommen zwischen Plaça, Kirschbäumen und Bibliotheksregalen
Es ist einer dieser heißen Vormittage in Marratxí: Ensaimadas duften aus der Bäckerei an der Plaça, irgendwo klappert ein Fahrradkorb, eine Verkäuferin ruft ein freundliches „bona tarda“. Emina steht am Tresen, ihren Kaffee in der Hand, bestellt denselben Becher wie immer. Diese kleinen Routinen haben ihr Halt gegeben in Jahren, die von Warten und Unsicherheit geprägt waren. Geboren 1983 in Doboj, Kindheit zwischen Belgrad und dem Kosovo, Jahre in Deutschland — und seit nunmehr acht Jahren das raue, trockene Klima Mallorcas, die Schatten unter den Orangenbäumen und die Spaziergänge unterhalb der Serra de Tramuntana.
Der Status, der Perspektiven blockiert
„Geduldet“ — das Wort steht wie eine Schattierung über großen Teilen ihres Lebens in Deutschland: befristete Fristen, kaum Zugang zu Ausbildung, ständige Ungewissheit. Viele würden darunter zusammenbrechen. Emina suchte anders: nicht im großen Fördertopf, sondern in der stillen Ecke der Gemeindebibliothek. Nächte mit Vokabeln, Bücher als Lehrmeister, Selbststudium als Überlebensstrategie. Aus dieser Praxis entstand ihr jüngstes Projekt: ein Buch mit dem Titel "100 Tage zu Dir" — kein strikter Ratgeber, sondern ein Tagebuch-Rahmen, drei Abschnitte, die das Leben in überschaubare Handlungen teilt. 100 Tage, sagt sie, sind lang genug, um Muster zu verändern, kurz genug, um nicht zu verzetteln. Ein Horizont, der beim Warten half, wieder zu atmen.
Warum gerade Mallorca und was die Insel zurückgibt
Der Anfang ihres Wegs auf die Insel war familiär: ihr Mann brachte sie hierher. Doch die Bindung wuchs durch alltägliche Dinge: das Zirpen der Zikaden im Sommer, das leise Plätschern der acequias im Frühling, die Verkäufer auf dem Markt, die beim dritten Besuch ein neues Wort in ihr Spanisch einbauen. Integration, sagt Emina, war nie ein Aufgeben ihrer Herkunft, sondern ein tägliches Aushandeln von Nähe — ein „bona tarda“ am Gemüsestand, ein Stück Kuchen von der Nachbarin, ein Gespräch über die Kirschbäume vor dem Haus. Solche kleinen Rituale formen Heimat.
Integration als Praxis — nicht als Projekt
Ihre Geschichte macht deutlich: Wenn formale Wege fehlen, füllen Menschen Lücken selbst. Bibliotheken, Nachbarschaften, ehrenamtliche Initiativen werden zu Anlaufstellen. Das ist bewundernswert, aber kein Ersatz für systemische Lösungen. Es bleibt die Frage: Warum sind so viele auf Selbsthilfe angewiesen, statt dass Abschlüsse anerkannt und Zugänge zu Bildung und Arbeit offenstehen? Hier sollten Politik und Verwaltung ansetzen.
Konkrete Hebel: Ausbau kostenloser Sprach- und Alphabetisierungskurse in Gemeindezentren; Beratungsstellen zur Anerkennung ausländischer Qualifikationen; Mentoring-Programme auf Gemeindeebene, die Neuzugänge an lokale Handwerksbetriebe, Kulturinitiativen und Betriebe vermitteln; kleine Stipendien für kreative Projekte und Schreibwerkstätten, die Talente sichtbar machen. Praktisch umsetzbar wäre auch eine engere Zusammenarbeit zwischen Ajuntament, Bibliotheken und Nachbarschaftsvereinen — etwa feste Bürozeiten für Anerkennungsberatung in der Bibliothek oder gemeinsame Markttage mit Info-Ständen. Solche niedrigschwelligen Angebote öffnen Türen, ohne große bürokratische Hürden zu produzieren.
Das kleine Glück und das Schreiben als Brücke
Im kleinen Haus nahe der Plaça sitzt Emina oft am Küchentisch und schreibt. Schon jetzt arbeitet sie am nächsten Text — persönlicher, erzählerischer, ein Appell für Frieden und kulturelle Verantwortung. Ihre Zeilen atmen die Insel: der Duft der Orangenblüte, die trockene Luft nach einem langen Sommer, die roten Kirschblüten im Frühling. Immer wieder sagt sie: „Du musst den Mut haben, nach vorne zu gehen.“ Kein Pathos, eher eine praktische Anweisung: anfangen, tun, mit dem, was da ist.
Was die Insel lernen könnte
Der Morgen in Marratxí hinterließ ein einfaches Gefühl: Dankbarkeit für die kleinen Dinge — und die Erkenntnis, dass diese Dinge oft genug den Unterschied machen zwischen Stagnation und Neubeginn. Menschen wie Emina zeigen, wie Selbstorganisation und Nachbarschaftshilfe Lebenswege öffnen können. Gleichzeitig bleibt ihr Beispiel ein Appell an die Politik: Integration braucht Räume — physische (wie Bibliotheken und Gemeindezentren) und institutionelle (wie Anerkennungsberatungen und Bildungszugänge). Nutzt Mallorca diese Hebel, gewinnt die Insel doppelt: Neuankömmlinge finden eine echte Chance auf Teilhabe, und die Gemeinschaft bereichert sich kulturell und kreativ.
Am Ende steht eine einfache, aber nicht banale Frage: Wie viele Geschichten würden anders verlaufen, wenn Warten nicht die erste, sondern die letzte Option wäre? Die Antwort beginnt klein — beim Kaffee an der Plaça, bei einem Angebot in der Bibliothek, bei einem gelebten „bona tarda“ am Markt.
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