Sóller vor Wohnungsnot: Wie der Ort bezahlbar bleiben kann

Sóller vor Wohnungsnot: Wenn die Nachbarn keine Wohnung mehr finden

👁 3800✍️ Autor: Ana Sánchez🎨 Karikatur: Esteban Nic

Die Glocken läuten, der Markt duftet nach Orangen – und die Frage bleibt: Wie lange kann Sóller noch die Menschen halten, die den Ort ausmachen, wenn Wohnungen ab 1.500 Euro starten? Ein Blick auf Zahlen, fehlende Instrumente und praktische Hebel.

Wie lange kann Sóller die Menschen noch halten? Wenn der Nachbar keine Wohnung mehr findet

Am frühen Morgen, wenn die Glocken der Iglesia Sant Bartomeu noch nachhallen und die Plaça Constitució nach frischem Kaffee und warmem Brot riecht, läuft das Leben wie immer – auf den ersten Blick. Der Ferrocarril schuckert voller Pendler in die Berge, die Tram pfeift vom Port herauf. Doch unter der Sonne zeichnet sich eine andere Spur: Haushalte, die rechnen, Handwerker, die nach Lohnabrechnung den Rest des Monats planen, und immer mehr Inserate, die bei ungefähr 1.500 Euro im Monat beginnen. Die Leitfrage bleibt: Wie bleibt Sóller lebenswert für die, die hier arbeiten und aufwachsen wollen?

Was die Zahlen zeigen – und verschweigen

Wissenschaftler und lokale Datenzeichner haben knapp 950 Mietverträge ausgewertet. Ein Modell würde für eine 96 m² große Wohnung im Zentrum rund 976 Euro vorsehen, für 84 m² im Hafenbereich knapp 966 Euro. Theorie: etwa 900 Euro im Schnitt. Praxis: Angebote starten bei 1.500 Euro – kein Ausreißer, sondern neuer Normalwert. Innerhalb eines Jahrzehnts stiegen Immobilienpreise um etwa 182 Prozent, Löhne dagegen nur um rund 29 Prozent. Das spürt man in den Gassen: Verrammelte Altbaufenster neben makellos renovierten Ferienapartments.

Der Alltag klagt

Auf dem Markt zwischen Orangenständen, dem Geschrei der Möwen und Touristengeschnatter erzählen Verkäuferinnen, dass sie in anderen Orten wohnen müssen, weil sie sich Sóller nicht mehr leisten können. Ein junger Maurer sagt, er berechne jeden Euro, bevor er über Kinder nachdenkt. Eine ältere Frau, die seit Jahrzehnten die Plaça fegt, hat drei Nachbarn in zwei Jahren verloren. „Für viele hier ist bezahlbares Wohnen schlichtweg außer Reichweite“, sagt ein örtlicher Geograf, der die Daten ausgewertet hat. Das ist mehr als Statistik: Es ist der Verlust sozialer Netze, spontane Hilfe beim Laden, das gemeinsame Abendbrot – Dinge, die den Ort zusammenhalten.

Warum einfache Antworten nicht reichen

Die Forderung nach einer Einstufung als angespannter Wohnungsmarkt taucht ständig auf. Sie ist ein Instrument, aber kein Allheilmittel. Mietpreisbremsen allein greifen zu kurz, wenn parallel Wohnraum in Ferienapartments verwandelt wird, Altbestände leer stehen und spekulative Käufe den Markt dominieren. Entscheidend sind auch weniger diskutierte Aspekte: fehlende Kontrollen bei Kurzzeitvermietung, intransparente Besitzstrukturen, saisonale Nachfrage, die Grundversorgung von Saisonkräften und die Steuerlogik, die Kurzzeitvermietung attraktiver macht als langfristige Vermietung an Einheimische.

Hebel, die zu greifen versprechen — aber nicht ohne Mut

Sóller diskutiert verschiedene Maßnahmen. Einige davon sind schon bekannt, andere werden in der Debatte zu selten ausgeführt:

1. Miet- und Leerstandsregister: Eine verlässliche Datenbasis ist Voraussetzung. Nur wer weiß, welche Wohnungen wirklich leer stehen oder wiederholt als Ferienwohnung angeboten werden, kann zielgerichtet handeln.

2. Steuerliche Differenzierung: Höhere Abgaben auf dauerhaft leerstehende oder ausschließlich touristisch genutzte Immobilien; Steuererleichterungen für Eigentümer, die langfristig an ortsansässige Familien vermieten. Das würde ökonomische Anreize in Richtung dauerhafte Nutzung verschieben.

3. Förderprogramme für Bestandssanierung: Geld für die Instandsetzung von Altbauwohnungen, gekoppelt an eine Belegungsbindung für Einheimische. So bleiben Fassaden, Kopfsteinpflaster und das soziale Gefüge erhalten.

4. Kommunale Zwischenvermietung und Rückkauf: Wenn die Gemeinde gezielt einzelne Objekte ankauft oder unter Zwischenmiete zur Verfügung stellt, kann kurzfristig Druck genommen werden — vor allem für Beschäftigte in Pflege, Gastronomie oder Handel.

5. Regulierung und Durchsetzung bei Kurzzeitvermietung: Eine transparente Lizenzvergabe mit Priorität für Ortsansässige, stärkere Kontrollen und klare Sanktionen gegen illegale Angebote. Ohne Durchsetzung bleibt jede Regel nur ein Zettel im Rathaus.

6. Genossenschaftliche Wohnmodelle: Baugruppen und Wohnungsgenossenschaften können langfristig bezahlbaren Wohnraum schaffen. Das erfordert jedoch Unterstützung bei Landzugang, Finanzierung und bürokratischen Hürden.

Die schwierige Balance der Politik

All diese Instrumente berühren Eigentumsrechte, touristische Einnahmen und lokale Arbeitsplätze. Eine zu scharfe Regulierung könnte kurzfristig Einnahmen schmälern, eine zu sanfte Politik aber die soziale Substanz des Ortes zerstören. Deshalb braucht es ein Paket aus kurzfristigen Entlastungen und langfristigen strukturellen Änderungen, flankiert von klaren Daten, Bürgerbeteiligung und politischem Rückgrat. Wer nur Appelle schreibt, wird sehen, wie nach und nach die Bäckerei von nebenan schließt, weil die Besitzerin in ein günstigeres Dorf ziehen musste.

Was in der Debatte oft fehlt

Zu wenig sprechen wir über saisonale Wohnlösungen für Erntehelfer und Saisonkräfte, über Kinderbetreuung und Mobilität, die günstiges Wohnen überhaupt erst ermöglicht. Auch psychologische Kosten fehlen: Menschen, die ihre Nachbarschaften verlieren, ziehen seltener in Gemeinschaftsarbeit, Vereinsleben und Ehrenamt mit ein. Der Lärm der Tram ist dann nur noch Hintergrundmusik zu einer Stadt ohne die, die sie täglich mit Leben füllen.

Ein Ausblick, der nicht naiv sein darf

Sóller ist schön — das wusste jeder, der jemals den Blick vom Mirador geworfen hat. Aber Postkartenmotiv allein reicht nicht. Es braucht mutige Entscheidungen: ein Mietregister, steuerliche Steuerung, kommunale Initiativen zum Ankauf, flankierende soziale Angebote und eine konsequente Kontrolle von Kurzzeitvermietungen. Nur so bleibt der Ort nicht nur fotogen, sondern lebenswert für Menschen, die hier arbeiten, Kinder großziehen und die Orangenstände betreiben.

Am Abend, wenn die Sonne lange Schatten über das Kopfsteinpflaster wirft und die Tram pfeifend in den Hafen tuckert, sollten die Entscheidungen nicht warten. Wer in Sóller handeln will, muss jetzt anfangen — und zwar mit Instrumenten, die mehr schützen als nur Preise.

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